Psychotherapeutische* Praxis
für Familien- und Beziehungsberatung, Persönlichkeitsentwicklung und Traumatherapie


Die Polyvagal-Theorie


Die Polyvagal-Theorie ist heute eine der grundlegendsten und bedeutendsten Theorien für eine Vielzahl von Methoden und Konzepten in der Traumatherapie. Sie wurde von Stephen Porges in den letzten Jahrzehnten entwickelt und für die Praxis nutzbar gemacht. Sie erklärt, auf welcher Grundlage das Autonome Nervensystem unser Verhalten steuert und wie wir dies nutzen können für unsere eigene mentale Gesundheit.

In dem hier verlinkten Youtube-Video „Der Polyvagal-Kreis“ habe ich die Polyvagal-Theorie in eine leicht verständliche Form gebracht, ohne ihre Komplexität zu reduzieren. Den vollständigen gesprochenen Text finden Sie unten auch zum Nachlesen.


Der Polyvagal-Kreis
ein Youtube-Video zur Polyvagal-Theorie




 

Hier ist der gesprochene Text aus dem Video zum Nachlesen:

Mit diesem Video möchte ich anhand des Polyvagal-Kreises erklären, wie unser Autonomes Nervensystem versucht, unser Überleben zu sichern, welche Rolle dabei das Erleben von Sicherheit und Verbundenheit spielt und wie es dazu kommen kann, dass wir traumatisiert werden. Dies alles werde ich auf der Grundlage der Polyvagal-Theorie von Dr. Stephen Porges erklären.

Das Autonome Nervensystem ist Teil des umfassenden und vielschichtigen Nervensystems des Menschen, das den ganzen Körper durchzieht.
Vereinfacht betrachtet besteht das Nervensystem zunächst einmal aus dem Gehirn. Zusammen mit dem Rückenmark bildet es das Zentrale Nervensystem. Aufgabe des Zentralen Nervensystems ist es, das Zusammenspiel aller Bereiche und Systeme im menschlichen Körper zu regulieren und in eine ausgewogene Balance zu bringen.
Darüber hinaus gehören zum Nervensystem auch all die Nervenbahnen, die sich durch den gesamten Körper ziehen. 
Dazu zählen zum einen die Hirnnerven. Sie entspringen zumeist direkt dem Hirnstamm und führen überwiegend in den Kopf- und Halsbereich. Eine wesentliche Ausnahme macht hier der Vagusnerv, der nicht nur in den Kopfbereich, sondern auch in den Brust- und Bauchraum führt und dort Herz, Lunge sowie die Verdauungsorgane bis zum Dickdarm erreicht. Außerdem gibt es noch die Rückenmarknerven, die dem Rückenmark entspringen und alle Bereiche und Organe des Körpers erreichen.
Hirnnerven und Rückenmarknerven bilden gemeinsam das Periphere Nervensystem, das mit dem Zentralen Nervensystem verbunden ist.
Gemeinsam haben das Periphere und das Zentrale Nervensystem die Aufgabe, einerseits äußere und innere Reize wahrzunehmen, diese über die Nervenbahnen weiterzuleiten und im Zentralen Nervensystem zu verarbeiten und zu speichern. Andererseits werden Impulse des Zentralen Nervensystems über die peripheren Nervenbahnen an die Muskulatur und Organe geleitet, um Reaktionen im Körper und ins Außen zu ermöglichen.
Das Autonome Nervensystem ist ein funktionaler Teilbereich des gesamten Nervensystems. Es steuert und reguliert lebenswichtige Körperfunktionen und Körpervorgänge wie zum Beispiel den Stoffwechsel, den Blutkreislauf und den Wärmehaushalt. Dies macht es völlig autonom, ohne dass der Mensch vorsätzlich steuernd eingreifen kann. Die autonome Regulation lässt unseren Körper ständig und ganz natürlich zwischen Momenten der Ruhe und Momenten der Aktivität pendeln.
Dafür bedient sich das Autonome Nervensystem zweier Subsysteme: 
Mit Hilfe des Parasympathischen Nervensystems und seines größten und wichtigsten Nervs, dem Vagusnerv, bringt das autonome Nervensystem Ruhe in den Körper, wodurch Gesundheit, Entwicklung, Regeneration und Heilung möglich werden. Und mit Hilfe des Sympathischen Nervensystems werden die körperlichen Systeme aktiviert, wodurch Bewegung in den Körper kommt. Dieser Wechsel zwischen Ruhe und Aktivität ist, so lange wir leben, ein ununterbrochener Prozess, bei dem idealer Weise ganz natürlich ein Ausgleich zwischen Ruhe und Aktivität gefunden wird.
Das Autonome Nervensystem verfolgt mit all dem, was es tut, ein grundsätzliches Ziel: Es will unser Überleben sichern, damit wir uns möglichst lange fortpflanzen und um unseren Nachwuchs kümmern können. Das Überleben lässt sich sichern, indem wir einerseits mit uns friedlich gesinnten Menschen Gemeinschaften bilden und uns andererseits bei Gefahr verteidigen.
Dafür überprüft unser Autonomes Nervensystem in jedem Moment, inwieweit die Situation, in der wir uns befinden, und die Menschen, denen wir begegnen, sicher, gefährlich oder lebensgefährlich sind. Und diese Einschätzung der aktuellen Gefahrenlage trifft es unabhängig von unserem Bewusstsein. Es bedient sich dabei aller zur Verfügung stehen aktuellen Sinnesreize aus der Umwelt und aus dem eigenen Körper sowie der im Zentralen Nervensystem gespeicherten Erfahrungen. Stephen Porges hat für diesen nichtbewussten Vorgang den Begriff der Neurozeption geprägt.
Abhängig von seiner Einschätzung bereitet das Autonome Nervensystem unseren Körper sofort und sehr schnell darauf vor, auf die Situation angemessen reagieren zu können. Insbesondere bei Gefahr ist die schnelle Reaktion überlebensnotwendig, da eine langsame Reaktion schnell zu langsam sein kann. Je nachdem wird unser Körper also vorbereitet für Handlungen, die Verbundenheit schaffen, Gefahren abwehren oder Ressourcen schonen. Dafür reguliert das Autonome Nervensystem über das parasympathische oder das sympathische Nervensystem vor allen Dingen die Atmung, den Herz-Kreislauf, den Hormonhaushalt, die Muskelspannung, die Magen-Darm-Tätigkeit, den Gesichtsausdruck, die Stimme und das Hören.

Gelangt nun unser Autonomes Nervensystem auf dem Wege der Neurozeption im Idealfall zur unbewussten Einschätzung, dass eine Situation oder Begegnung sicher ist, reguliert es alle wichtigen Bereiche des Körpers in einer Weise, dass soziale Interaktion mit anderen Menschen und Lebewesen möglich wird und ein beruhigendes und nährendes Gefühl der Verbundenheit entstehen kann. Diese Regulation geschieht über den ventralen Zweig des Vagusnervs:

  • Die Atmung beruhigt sich und ist entspannt;
  • das Herz schlägt in einem angenehmen Rhythmus, wodurch zu allen Bereichen des Körpers Signale der Ruhe gesendet werden;
  • die Muskeln sind entspannt, weil keine Aktion bevorsteht;
  • der Magen-Darm-Trakt arbeitet, um uns mit Nährstoffen zu versorgen und Abfallstoffe zu entsorgen;
  • Hormone, die soziales Verhalten begünstigen, werden ausgeschüttet;
  • die entspannten Gesichtsmuskeln insbesondere rund um die Augen ermöglichen uns einen freundlichen Gesichtsausdruck;
  • die Stimme ist melodisch und im Ton freundlich
  • und das Mittelohr wird autonom so eingestellt, dass die menschliche Stimme optimal gehört werden kann.

So schwingt unser Autonomes Nervensystem aus dem Gefühl der Sicherheit heraus in einem Bereich, in dem wir entspannten Kontakt mit anderen Menschen aufnehmen und dabei gleichzeitig Signale der Sicherheit senden können. Wir können Unterhaltungen mit dem Gefühl der Verbundenheit führen und uns dem fröhlichen Spiel und ausgelassenen Tanz zuwenden. Dabei kommt es, ohne dass die Einschätzung der Sicherheit verloren geht, automatisch auch zu einer leichten Aktivierung des Sympathischen Nervensystems. Das können wir daran merken, dass die Atmung kräftiger wird, die Herzfrequenz zunimmt und der Muskeltonus steigt.
Nimmt die Erregung zum Beispiel in Form der Aufregung weiter zu, kann der Punkt erreicht werden, wo es notwendig für uns wird, die eigenen Grenzen deutlich zu setzen und uns zu verteidigen. Das Autonome Nervensystem wechselt dabei langsam zu der Einschätzung, dass Gefahr besteht. Dies ist der wichtige Bereich der „Gesunden Aggression“: Der Mensch tritt, wenn er noch mit dem Gefühl der Sicherheit verbunden ist, klar und entschlossen für seine eigene Integrität und Sicherheit ein. Der ventrale Vagus bleibt dabei grundsätzlich aktiv, so dass die sympathische Aktivierung nicht zu groß wird, wir in der Lage bleiben, unsere Emotionen und unser Verhalten zu regulieren und dadurch unsere Aktionen nicht übergriffig und verletzend werden.
Am anderen Ende des Spektrums neurozeptiv erlebter Sicherheit sind Herz-Kreislauf, Atmung und Muskeltonus noch weiter beruhigt und die Verdauungsorgane arbeiten optimal, um uns mit Nährstoffen zu versorgen. Wir können uns dem konzentrierten Lernen zuwenden und haben die Möglichkeit, uns der Entspannung hinzugeben, wodurch geistige Entwicklung und körperliche Erholung möglich sind.
Unterstützt wird dieser Prozess durch die zusätzliche autonome Aktivierung des dorsalen Zweigs des Vagus. Aus dem Gefühl der Sicherheit und Verbundenheit mit für uns wichtigen Menschen heraus können wir mehr und mehr Immobilität tolerieren, was nicht nur eine Voraussetzung ist für entspannungsfördernde Formen des Yoga, der Tiefenentspannung, der Meditation oder der Kontemplation, sondern auch für die Bereitschaft zur Intimität, einem Zustand tiefer Vertrautheit mit der Bereitwilligkeit zu großer räumlicher Nähe und Bewegungseinschränkung. Und nicht zuletzt wird der gesunde Schlaf erst möglich, wenn aus dem Gefühl der Sicherheit heraus der dorsale Zweig des Vagus aktiviert wird. Diese nur leichte Aktivierung des dorsalen Vagus unterstützt das aktuelle Wohlbefinden, die körperliche Entwicklung und Regeneration, die Stabilisierung des Immunsystems und die allgemeine Gesunderhaltung.
Im Idealfall schwingt unser Autonomes Nervensystem irgendwo in diesem Bereich zwischen gesunder Immobilität und gesunder Aggression. Die Grundlage dafür bildet das neurozeptiv erlebte Gefühl der Sicherheit und das sich in der Interaktion über die Zeit entwickelnde und stabilisierende Gefühl der Verbundenheit. Dies ist der optimale Dynamikbereich unseres Autonomen Nervensystems, in dem Wohlbefinden, Entwicklung und Gesundheit möglich sind.


Wenn unser Autonomes Nervensystem zu der Einschätzung kommt, dass die Situation, in der wir uns befinden, oder der Mensch, dem wir begegnen, gefährlich ist, dann beginnt es sofort, den Körper über das sympathische Nervensystem für ein entsprechendes Verteidigungsverhalten wie Kampf und Flucht vorzubereiten: 

  • Die Atmung wird beschleunigt, weil nun viel Sauerstoff vor allem in den Muskeln benötigt wird;
  • die Herzfrequenz steigt, weil sauerstoffreiches Blut und im Körper gespeicherte Energie durch den Körper gepumpt werden müssen;
  • die Muskelspannung steigt, damit schnelle und kraftvolle Bewegungen möglich sind;
  • die Verdauungstätigkeit im Magen-Darm-Trakt wird vorübergehend eingestellt, weil Verdauung für das bevorstehende Verteidigungsverhalten nicht notwendig ist und nur unnötig Energie verbrauchen würde;
  • Stresshormone werden ausgeschüttet und informieren den gesamten Körper, dass Gefahr besteht;
  • Gesichts- und Nackenmuskeln werden angespannt, um die Gefahrenquelle besser fokussieren zu können;
  • die Stimme wird hart und bedrohlich oder schrill und alarmierend
  • und das Mittelohr wird autonom so eingestellt, dass vor allen Dingen tiefe Gefahrengeräusche oder hohe Alarmtöne gehört werden können.

Das Erkennen von Gefahr mobilisiert im Extremfall alle zur Verfügung stehende Energie und Kraft, um die persönliche Unversehrtheit oder auch die Unversehrtheit unserer Familie und Freunde zu schützen oder zu verteidigen.  Dabei spielt es keine Rolle, ob die Gefahr tatsächlich besteht oder nur vermeintlich. Die Energieballung in uns erleben wir als Ärger, Wut oder Rage. 
In diesem Kampf/Flucht-Modus sind wir nicht länger in der Lage, angenehme und nährende zwischenmenschliche Interaktion zu gestalten und unser Auftreten lädt auch unser Gegenüber nicht mehr dazu ein. Vielmehr wirken wir nun auf Andere abweisend und beängstigend, was mit großer Wahrscheinlichkeit dazu führt, dass unser eventuell eigentlich friedfertiges Gegenüber ebenfalls in den Verteidigungs-Modus des sympathischen Nervensystems kommt.
Eine Form des Kampfes, die oftmals nicht als eine solche erkannt wird, ist die Unterwürfigkeit, bei der einem die Angst im Nacken sitzt und es darum geht, seine Haut durch offensives Zurschaustellen der eigenen Friedfertigkeit zu retten.
Je mehr Überlebensenergie unser Körper generiert, desto aggressiver wird der Kampf: Die Drohung ist dabei die ultimative Ankündigung von Gewaltbereitschaft. Ein zunächst noch mit Worten ausgeführter Streit kann sehr schnell zu lautstarkem Geschrei heranwachsen, bei dem niemand mehr zuhört. Schnell kann der Streit handgreiflich werden: Es wird geschupst und gezerrt und plötzlich ist die Schlägerei entfacht, bei der die Wut nur noch blind agiert und die Vernichtung der Gefahrenquelle erreichen will. 
Bei alldem neigt unser Autonomes Nervensystem nicht dazu, verhältnismäßig und vernünftig zu sein. Es wägt seine Reaktion nicht lange ab, wenn es ums Überleben geht.
Gelingt es uns, die Gefahr siegreich abzuwenden oder uns ihr erfolgreich zu entziehen, dann kann sich auf der Basis neugewonnener Sicherheit unser Autonomes Nervensystem wieder einschwingen im ventral-vagalen Dynamikbereich, der soziale Interaktion und Entspannung möglich macht. Das Gleiche gilt, wenn wir die Gefahr durch eine Neubewertung der Situation auflösen können oder wenn wir einen emphatischen Menschen an unserer Seite haben, der uns koregulierend unterstützt.
Bleibt die Gefahr aber für uns bestehen und stellt sich kein wiedergewonnenes Erleben von Sicherheit ein, schaffen wir es nicht, unsere Emotionen und unser Verhalten zu regulieren, und haben niemanden, der uns dabei in Form von Koregulation unterstützt, dann finden wir nicht den Weg zurück zu sozialer Interaktion und Entspannung. Unser Autonomes Nervensystem verharrt im Zustand hoher sympathischer Erregung. Dies gilt auch, wenn die Gefahr immer wieder und in dichter Folge auftritt: Unser Sympathisches Nervensystem bleibt aktiviert, um jederzeit der bestehenden oder erwarteten Gefahr mit aller Kraft zu begegnen.
Wenn unser Autonomes Nervensystem dauerhaft aktiviert bleibt und sich nur noch in einem eingeschränkten hochaktivierten Dynamikbereich bewegt, dann entwickeln wir anhaltenden körperlichen Stress mit allen daraus resultierenden Nachteilen: Wir finden kaum noch oder keine Möglichkeiten mehr zu körperlicher Entspannung und Regeneration und wir entwickeln mit zunehmender Wahrscheinlichkeit vielfältige Erkrankungen auf körperlicher und auch psychischer Ebene.


Von einem Trauma sprechen wir in diesem Zusammenhang dann, wenn unser Autonomes Nervensystem im Hier und Jetzt immer wieder Gefahren entdeckt, die bei genauerem Hinsehen gar nicht bestehen. Irgendetwas erinnert uns jedoch, ohne dass wir uns dessen bewusst werden, an etwas, das uns zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort das Gefühl von Sicherheit genommen hat. Wir reagieren reflexhaft auf einen speziellen Ton der Stimme, auf Wörter, Gesten und Körperhaltungen, auf Handlungen und Verhaltensweisen, auf Berührungen, Nähe oder räumliche Situationen, auf Gerüche oder Farben, auf Bilder, unbewusste Gedanken und Vorstellungen. Wir reagieren auf etwas, was wir und unser Autonomes Nervensystem im Dort und Damals tatsächlich als gefährlich erlebt haben und das wir damals nicht erfolgreich abwehren konnten. Wir reagieren mit einer Verteidigungsstrategie, die im Dort und Damals unser Überleben gerettet hat und gleichzeitig nicht erfolgreich zu Ende gebracht wurde. Wir haben damals kein Gefühl der Sicherheit zurückgewinnen können und stecken in hoher Aktivierung fest. Wir greifen auf eine Verteidigungsstrategie zurück, auch wenn sie für das Hier und Jetzt eigentlich nicht mehr passend ist.
Kommt unser Autonomes Nervensystem zu der Einschätzung, dass bei bestehender Gefahr weder der eventuell bereits begonnene Kampf noch die gegebenenfalls schon eingeleitete Flucht Aussicht auf Erfolg haben, dass die Gefahr vielmehr überwältigend und absolut lebensgefährlich ist, dann aktiviert es den dorsalen Vagus: Alle wesentlichen Systeme unseres Körpers werden im Zustand der Angst und bei hohem Stresshormonspiegel heruntergefahren:

  • Die Atmung wird flach;
  • die Herzfrequenz sinkt auf ein Minimum;
  • die Muskelspannung ist äußert gering und
  • die Magen-Darm-Tätigkeit kommt nahezu zum Erliegen.

In diesem physiologischen Zustand, der das Gesamtsystem auch vor einer drohenden sympathischen Überlastung schützen soll, erwecken wir den Eindruck der Leblosigkeit und werden damit für einen potentiellen Angreifer uninteressant. Unser Schmerzempfinden nimmt ab und alle nur möglichen Ressourcen werden für eine Zeit „danach“ aufgespart. Das Ergebnis ist eine mehr oder weniger umfassenden Immobilität im Angesicht der Bedrohung.
Eine Form der manchmal auch nur leichten Immobilität ist die Traurigkeit, bei der der Mensch nach einem Verlust nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll und gleichzeitig Wut und Ärger nicht zulassen kann. Kommt ein angsteinflößendes Ereignis gewaltig und überraschend, dann bleibt nicht wirklich Zeit für eine aktive Reaktion; der Schock, die sofortige Immobilität, ist physiologisch dann die einzige Möglichkeit der Verteidigung für ein überfordertes System. Im Vergleich zur Flucht, mit der man sich aktiv aus der Gefahrenzone bringen will, ist der Rückzug eine Flucht ins eigene Innere, bei der man jedoch in der Gefahrenzone bleibt. Zu diesem Abtauchen kommt bei der Erstarrung oder dem Shutdown noch aufgrund der sehr niedrigen Muskelspannung die motorische Immobilität hinzu. Und bei der Ohnmacht kollabiert dann tatsächlich kurzfristig das Herz-Kreislauf-System.
Ist der Mensch erst einmal in den Zustand der Immobilität geraten, wird es sehr schwierig, zurück in die Mobilität zu kommen, weil das Autonome Nervensystem sich in eine Art Sackgasse manövriert hat. Dies liegt vor allen daran, dass sich der Mensch im Zustand der Immobilität weiterhin in der Gefahrenzone befindet, ohne dass er aktiv irgendetwas tun kann, damit die Gefahr sich auflöst. Kommt der Mensch also aus der Immobilität zurück in die Mobilität, erlebt er sofort wieder die Gefährlichkeit Situation und spürt Wut und Rage. Und wenn sich an der Situation nicht wirklich etwas geändert hat, weil entweder die Gefahr sich aufgelöst hat oder jemand uns koregulierend dabei unterstützt, uns aus der Gefahrenzone in ein Erleben von Sicherheit zu begeben, taucht auch schnell wieder das Gefühl der Überwältigung auf, das den Menschen erneut in die Immobilität befördert. Auf diese Weise agiert das Autonome Nervensystem anhaltend in einem sehr eingeschränkten dysregulierten Dynamikbereich zwischen Wut und Ohnmacht.


Befindet sich der Mensch zu oft in dem nur für absolute Notfälle vorgesehenen Immobilitätsmodus oder in dem beschriebenen dysregulierten Dynamikbereich, dann sprechen wir von einem Trauma, unter dem nicht nur die Lebenszufriedenheit und Lebensfreude leidet, sondern tatsächlich auch die körperliche Gesundheit: Fettleibigkeit, Diabetes, Herzerkrankungen, Atemproblematiken, Schmerzerkrankungen und Krebs treten mit einer mehrfach höheren Wahrscheinlichkeit auf. Und auch psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angstzustände und die damit verbundenen Drogenproblematiken sind deutlich wahrscheinlicher. Grundsätzlich beeinträchtigt werden dadurch auch unsere höheren kognitiven Funktionen, wie das Treffen von Entscheidungen, das Lösen von Problemen und das Regulieren von Emotionen.
Ein Weg aus der Immobilität zurück in den Bereich der Entspannung und der sozialen Interaktion führt über die Immobilität ohne Angst. Dieser Weg wird möglich, wenn die Bedrohung und der von ihr ausgehende Druck aktuell sich auflöst und langsam, manchmal nur sehr langsam ein Gefühl der Sicherheit in der Immobilität entstehen kann. Hält dieser Prozess lang genug an, kann es wieder zu Momenten der Entspannung kommen und die Aufnahme sozialer Interaktion an anderer Stelle wird möglich. Damit hat sich aber die bedrohliche Grundsituation, die in die Immobilität mit Angst geführt hat, nicht unbedingt aufgelöst. Lebt der Mensch tatsächlich weiterhin in widrigen Lebensumständen mit zum Beispiel Missbrauch, Gewalt, Vernachlässigung oder Armut oder wird seine widrige Lebenserfahrung aus dem Dort und Damals immer wieder getriggert, droht er immer wieder in die Immobilität mit Angst zu geraten. Erst wenn diese aktuellen widrigen Lebensumstände aufgelöst oder die widrigen Lebenserfahrungen neuverhandelt werden, kann sich ein zunehmendes und anhaltendes Gefühl der Sicherheit einstellen. Und erst dann ist die Rückkehr des Autonomen Nervensystems in seinen optimalen Dynamikbereich möglich.
Unser Autonomes Nervensystem arbeitet Tag und Nacht, um unser Überleben zu sichern. Dass es dies sehr effizient und erfolgreich macht, ist offensichtlich, denn schließlich leben wir ja noch. Wenn wir jedoch in unserem Leben mit zu vielen widrigen Lebenserfahrungen konfrontiert waren, die uns in Angst und Schrecken versetzten, und gleichzeitig niemand da war, der uns wieder in das Erleben von Sicherheit zurückbegleitet hat, dann kann unser Autonomes Nervensystem sehr grundsätzlich aus dem Rhythmus von Ruhe und Aktivität gekommen sein.
Die gute Nachricht ist, dass es jederzeit möglich ist, diesen gesunden Rhythmus wiederzufinden. Wir können diese Heilung jedoch nicht alleine schaffen; wir brauchen dafür mindestens einen einfühlsamen Mitmenschen, der uns auf diesem Weg begleitet. Das muss nicht unbedingt ein Therapeut sein, es kann auch ein Freund oder ein Mensch sein, dem wir vertrauen. Dabei entsteht Heilung, wenn wir auf dem Weg der Koregulation wieder und wieder in ein Erleben von Sicherheit und Verbundenheit im Hier und Jetzt kommen.
Am Ende ist es nicht notwendig, dass wir uns immer und überall sicher fühlen, denn ein gewisses Maß an Unsicherheit und Gefahr gehört ganz einfach zum Leben dazu. Wir brauchen auch nicht zu jeder Zeit Koregulation. Was wir jedoch brauchen und was wir unseren Kindern als das größte Geschenk mitgeben sollten, ist ein verkörpertes Wissen, dass es für uns grundsätzlich einen Zugang zu sicheren Lebenswelten und sicheren sozialen Beziehungen gibt.
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Stephen Porges: Die Polyvagal-Theorie, 2010
           Die Polyvagal-Theorie und die Suche nach Sicherheit, 2017

Kathy Kain, Stephan Terrell: Nurturing Resilience, 2018

Alaine Duncan, Kathy Kain: The Tao of Trauma, 2019